Die Übung der Gegenwart Gottes

Eine großartige Form der Achtsamkeitspraxis, die als Einzelübung auch im „Kurs in Wundern“ enthalten ist, ist die Übung des Gewahrseins der Gegenwart Gottes. Sie gehört zu den mächtigsten spirituellen Methoden des Christentums und ist bei konsequenter Anwendung zutiefst transformierend. In gewisser Weise bildet sie das christliche Gegenstück zur spirituellen Selbsterforschung der hinduistischen Mystik, bei der man der Frage „Wer bin ich?“ auf den Grund geht. Genauso wie diese kann sie den Anwender bis zum vollständigen spirituellen Erwachen (Unio Mystica, Satori, Nirvana) führen.

Die „Übung der Gegenwart Gottes“ existiert unter christlichen Mystikern auch schon seit vielen Jahrhunderten. Größere Bekanntheit erlangte sie jedoch vor etwas über 400 Jahren durch ein Buch über den französischen Karmelitermönch Bruder Lorenz (1614-1691).

In den Gesprächen und Briefen, die in diesem Buch enthalten sind, beschrieb Bruder Lorenz sein Lebensmotiv: sein höchstes Anliegen bestand darin, permanent die göttliche Gegenwart zu erspüren und zu erfahren. Und er wollte all seine Tätigkeiten nur noch aus Liebe zu Gott verrichten und Gott zu Diensten sein.

Seine Überlegungen lauteten dabei: „Gott braucht nichts; Gott hat mich nur für sich geschaffen; ich werde mein Bestes geben und so leben, als gäbe es nur Gott und mich; ich möchte nichts tun, was Gott missfällt, ich möchte, dass alles, was ich tue, Gott gefällt; darum werde ich alles, was ich zu tun habe, aus Liebe zu Gott tun.“

Auf der Basis dieser Überlegungen hielt er sich daraufhin an folgende Regeln:

  • Er rief Gott fortgesetzt um Hilfe in allem an, was er zu tun hatte
  • Er widmete all seine Taten – auch die Unbedeutendsten – Gott und tat sie quasi aus Liebe zu ihm
  • Er dankte ihm nach getaner Arbeit
  • Er bat ihn um Verzeihung für seine Fehler, indem er sie bekannte, ohne sich vor Gott zu rechtfertigen
  • Er dachte oft über die Attribute des Göttlichen nach und sprach in Gedanken oft mit Gott, fragte ihn um Rat und bat ihn um Führung
  • Er versuchte immer wieder die Gegenwart Gottes sowohl in der Außenwelt als auch in seiner Seele zu erspüren und ihr Gewahr zu werden
  • Er bemühte sich nichts zu tun was Gott missfallen könnte

Die Übung der Gegenwart Gottes besteht also im Prinzip darin, sich so oft wie möglich bewusst zu machen, dass man sich in der Gegenwart Gottes befindet, -der ja per Definition allgegenwärtig, allwissend und allmächtig ist -, und sich immer wieder an ihn zu wenden, mal anbetend, mal lobend oder bittend, mal opfernd und dankend, je nachdem was gerade passt.

Die Übung der Gegenwart Gottes scheint auf den ersten Blick sehr leicht zu sein, doch ist sie in der Konsequenz eines Bruder Lorenz genauso schwer zu erreichen, wie permanentes Spürbewusstsein, permanente Präsenz, Gedankenleere oder ähnliches. Auch Bruder Lorenz selbst hatte zunächst große Schwierigkeiten, sich der Gegenwart Gottes bewusst zu sein, wenn ihn eine Menge unnützer Gedanken bestürmten und von seinem Ziel ablenkten. Doch er bezwang dieses Problem, indem er sich damit begnügte, die ablenkenden Gedanken ruhig beiseite zu schieben und zu seiner gewöhnlichen Unterredung mit Gott zurück zu kehren. Dies tat er mit einer solchen Ausdauer und Beharrlichkeit, dass es ihm nach jahrelanger Übung schließlich gelang, nur noch Gedanken an Gott zu haben und die ganze Welt so zu erleben, als würde sie nur noch aus ihm und Gott bestehen, den er überall und in allem sah. Dadurch erlangte er einen inneren Frieden und eine Seligkeit, von der die meisten von uns nur träumen können.

In einem Gespräch am 22.11.1666 sagte Bruder Lorenz: „Wenn mich die äußere Beschäftigung schließlich ein wenig von Gott abgelenkt hatte, kam mir plötzlich von Seiten Gottes eine Erinnerung, welche meine Seele mit einem überaus starken Gedanken an Gott bestürmte und sie manchmal so heftig erregte und entflammte, dass ich schrie und am liebsten gesungen und getanzt hätte wie ein Narr… Alle Freuden der Welt sind nichts im Vergleich zu den Freuden meiner Seele.“

Falls Du Dich ernsthaft für Erleuchtung bzw. das Ende allen Leidens interessierst und dabei feststellst, dass Dich die Sichtweise eines persönlichen Gottes sehr anspricht, dann könnte die Übung der Gegenwart Gottes für Dich die großartigste aller spirituellen Übungen werden. Dann wirst Du bereits nach kurzer Zeit Momente außergewöhnlicher Dankbarkeit, Freude, Liebe oder tiefer Ergriffenheit erleben. Und die Welt wird sich für Dich in ein fortwährendes Wunder verwandeln.

Falls Du weitere Inspiration zu dieser Methode wünschst, kann ich Dir das Büchlein über Bruder Lorenz (auch Bruder Laurentius genannt) wärmstens empfehlen.

Mit besten Grüßen aus München,

Michael

Quelle: Bruder Laurentius (2005) „Allzeit in Gottes Gegenwart: Briefe, Gespräche und Schriften.“ Neufeld Verlag.

https://de.wikipedia.org/wiki/Lorenz_von_der_Auferstehung