Laut dem US-amerikanischen Bewusstseinsforscher Ken Wilber gibt es für uns Menschen zwei Möglichkeiten für wahre und tiefgreifende Transformation: aufwachsen und aufwachen.
Aufwachsen bezieht sich dabei auf den uns angeborenen Impuls zu persönlicher Entwicklung und Wachstum.
Aufwachen dagegen bezieht sich auf unsere potenzielle Möglichkeit, durch die Erfahrung außergewöhnlicher und transzendenter Bewusstseinszustände eine grundsätzliche und nachhaltige Veränderung unserer Sichtweisen und Persönlichkeit herbeizuführen.
In diesem Artikel möchte ich mich mit der Persönlichkeitsentwicklung befassen und innerhalb dieser Entwicklung wiederum hauptsächlich mit der Frage, wie wir ausgehend von einem Zustand der „inneren Gespaltenheit“ ein integriertes und „reifes“ Ich entwickeln können.
Unter persönlichem Wachstum verstehe ich dabei eine zunehmende Erweiterung des eigenen Bewusstseins, der eigenen Grenzen und der eigenen Komfortzone.
Wie aus der Entwicklungspsychologie bekannt ist, verläuft die Entwicklung der menschlichen Psyche in Stufen, wobei keine Stufe ausgelassen oder übersprungen werden kann. Jede Stufe hat dabei ihre eigenen Charakteristika und Störungsmöglichkeiten. Im Verlauf der Entwicklung werden die jeweils niedrigeren Stufen dann im Idealfall integriert und transzendiert. Dieser Vorgang lässt sich vergleichen mit dem Wachstum eines Baumes, bei dem die früheren Entwicklungsstände in Form von Jahresringen in seiner gegenwärtigen Gesamtform enthalten sind. Was er früher war, ist im heutigen Baum also noch gegenwärtig (=integriert), aber er ist jetzt mehr als damals bzw. über seinen damaligen Zustand hinausgewachsen (=das damalige ist transzendiert).
Gehen wir jetzt einmal davon aus, dass Person X bis auf einen für unsere Gesellschaft durchschnittlichen Entwicklungsstand herangereift ist. In diesem Fall hat sie eine Persönlichkeit entwickelt, mit der sie sich an die gängigen Normen und Erwartungen ihrer Umwelt bzw. der Gesellschaft anpasst. Sie hat dann innerhalb der Gesellschaft eine bestimmte Funktion inne und lebt in verschiedenen Rollen, wie z.B. als Mutter, Vater, Angestellte, Tochter, Verkehrsteilnehmerin, Steuerzahlerin etc.
Die Persona
Diese Entwicklungsstufe wird in manchen Bereichen der Psychologie als „Persona“ bezeichnet. Der Begriff „Persona“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Maske“. Maske passt dabei in dem Sinne, dass wir auf der Ebene der „Persona“ nach außen hin ein bestimmtes Bild von uns vermitteln wollen.
Auf der Persona-Ebene identifizieren wir uns in der Regel mit einem künstlichen Bild unserer selbst, das wir unseren Mitmenschen präsentieren, weil wir von ihnen gemocht, respektiert oder unterstützt werden wollen. Gleichzeitig weisen wir alle Eigenschaften und Impulse von uns, die nicht in dieses Selbstbild passen. Die Persona ist also ein mehr oder weniger unwahres Selbstbild.
Leider hat dieses unwahre Selbstbild einige Haken. Wenn es für uns nämlich so wichtig ist, auf eine bestimmte Weise von anderen wahrgenommen zu werden, dann wehren wir automatisch alle entgegengesetzten Eigenschaften vehement ab. Halten wir uns zum Beispiel für friedfertig, dann verabscheuen wir Aggressivität. Halten wir uns für sparsam, verabscheuen wir Verschwendungssucht.
Aber nicht nur dies. Je vehementer wir derartige Eigenschaften ablehnen, desto vehementer leugnen wir deren Vorkommen in uns selbst und umso deutlicher sehen wir sie dann in anderen, die wir dafür zutiefst verachten. Diesen Vorgang bezeichnet man in der Psychologie als Projektion. Und das, was wir bei uns selbst leugnen und im Außen verachten, bezeichnete der berühmte Psychiater C.G. Jung als „Schatten“ bzw. „Schatten-Anteile“.
Typische Beispiele für solche Schatten-Anteile können eigene Tendenzen sein wie Wut, Feindseligkeit oder Aggression, Eifersucht, Geltungsbedürfnis, erotische Impulse, Bedürftigkeit oder seelische Schwäche.
Werden wir von anderen auf eine solche Projektion hingewiesen, wehren wir uns meist heftig dagegen und reagieren mit Empörung über die dreiste Unterstellung, wir selbst hätten auch nur die geringsten Spuren jener Eigenschaften, die wir bei anderen verachten. („Ich bin überhaupt nicht aggressiv!“ oder „Ich brauche niemanden. Ich bin sehr glücklich allein.“)
Aus psychologischer Sicht weisen die Entwertung anderer, oder gar Verachtung bzw. Hass auf andere aber immer darauf hin, dass diese uns an eigene ungeliebte Impulse oder Eigenschaften erinnern.
An dieser Stelle kannst du natürlich fragen, was das Problem daran ist, ein positives Selbstimage zu pflegen und negative Eigenschaften von sich zu weisen und bei anderen zu verurteilen.
Die Antwort lautet:
- Weil diese Sichtweise nicht wahr ist und zu Unbehagen mit der Umwelt führt. Da wir sämtliche für uns inakzeptablen Persönlichkeitseigenschaften in den Menschen um uns herum wahrnehmen, erscheint uns die Welt nämlich automatisch als feindseliger Ort.
- Weil die Abspaltung von unerwünschten eigenen Persönlichkeitsanteilen früher oder später zu Neurosen, psychosomatischen oder psychischen Problemen führt. Auf der Ebene der Persona haben wir nämlich den Kontakt zu unseren eigenen wahren Gefühlen, Wünschen, Impulsen oder zu unserem authentischen inneren Zustand verloren.
Neurosen
Neurosen sind die Weigerung, irgendeinen Aspekt des organischen, emotionalen, psycho-sexuellen, sinnlichen oder triebhaften Lebens in die eigene Persönlichkeit zu integrieren. Sie sind somit der Versuch des Egos, bestimmte Aspekte unserer Natur aus der Welt zu schaffen. Leider kann dies auf Dauer nicht funktionieren. Vielmehr tauchen die verdrängten triebhaften Anteile irgendwann als neurotische Symptome wie Depressionen, Ängste, Zwänge oder psychosomatische Beschwerden wieder in unserem Leben auf.
Die gute Nachricht besteht allerdings darin, dass diese Symptome wieder verschwinden, sobald wir die verdrängten triebhaften Anteile wieder annehmen und integrieren. Diesen Vorgang bezeichnet man in der Psychologie als Aufdecken und Integrieren des Schattens.
Entwicklungsaufgaben für die Weiterentwicklung von der Persona-Ebene
Wollen wir uns von der Persona Ebene aus weiter entwickeln, sollten wir lernen, unsere unangenehmen Gefühle bzw. Symptome anzunehmen und uns mit ihnen als Teil von uns anzufreunden. Wir erlauben uns also z.B. deprimiert, wütend, eifersüchtig oder schwach zu sein, wenn wir uns entsprechend fühlen. Und zwar auch dann, wenn diese Emotionen unserem Selbstbild widersprechen. Wir laden die Symptome also sozusagen aktiv ein und lassen sie zu.
Darüber hinaus besteht die wertvollste Aufgabe an dieser Stelle im Aufspüren der eigenen Schattenanteile und deren Integration. Das Aufspüren ist dabei gar nicht so schwierig. Unser Schatten besteht nämlich einfach aus dem Gegenteil dessen, was uns an uns selbst wichtig ist. Eine weitere einfache Art und Weise, eigene Schattenanteile zu finden, ist die, zu schauen, welche Persönlichkeitsmerkmale uns an anderen am meisten abstoßen. Diese gehören zu unserem Schatten.
Warum aber sollte man den Schatten überhaupt integrieren? Nun,
(1.) Weil dadurch innere Konflikte gelöst werden,
(2) Weil wir dann nicht mehr dauernd auf der Hut sein müssen, um vor uns selbst und nach außen hin ein bestimmtes Selbstbild aufrecht zu erhalten,
(3) Weil wir dadurch zu einer umfassenderen und treffenderen Identität jenseits der Rollen gelangen, die auch das umschließt, was uns bis dahin fremd, bedrohlich und unkontrollierbar erschien, und
(4) Weil wir dann weniger auf die Bestätigung durch andere angewiesen sind, da uns unsere Selbstachtung wichtiger wird als unser Bedürfnis nach Zugehörigkeit.
Die Integration des Schattens
Und wie kann man die eigenen Schattenanteile integrieren? Durch die Identifikation mit dem Schatten, was gleichzeitig zur Desidentifikation von der Persona bzw. dem eigenen „Möchtegern-Selbst“ führt sowie zur Erweiterung und Stärkung der eigenen Identität.
Eine sehr schöne und spielerische Möglichkeit, eigene Schattenanteile zu integrieren, stammt von Ken Wilber und ist in dessen Buch „Integrale Vision“ beschrieben. Wenn du dich über eine Person geärgert hast, finde heraus, was dich am Verhalten dieser Person geärgert hat. Dann sprich in Gedanken oder auch laut mit dieser Person (ohne dass sie dabei anwesend ist) und teile ihr mit, was sie mit ihrem Verhalten in dir auslöst. Dann identifiziere dich mit dieser Person, schlupfe quasi in ihre Haut und antworte aus ihrer Perspektive auf deine Aussagen. Versuche dabei, ohne inneren Widerstand zu fühlen und zu denken wie diese Person.
Eine andere sehr schöne Methode der Schattenintegration stammt von meinem Mentor Zivorad Slavinski und wurde von ihm als „magischer Spiegel“ bezeichnet. Wenn du dich dafür interessierst, findest du sie in seinem Buch „Austritt aus der Matrix“ in meinem Shop.
Wenn du die Integration deines Schattens zu einem festen Bestandteil deiner Psychohygiene machst und die hierfür nötigen Übungen in deinen Wochenablauf mit einbeziehst, wirst du dich Schritt für Schritt von der Identifikation mit deiner Persona lösen. Stattdessen wirst du ein reifes und zutreffenderes Ego entwickeln. Dies bedeutet konkret, dass du immer weniger innere Konflikte haben und somit ausgeglichener sein wirst. Du wirst weniger Ängste haben als bisher. Du wirst die Umwelt als weniger schlimmen Ort erleben und dich mit den Menschen im Allgemeinen weniger unwohl fühlen.
Quellen:
https://de.wikipedia.org/wiki/Persona
Ken Wilber: „Das Spektrum des Bewusstseins“
Ken Wilber: „Integrale Vision“