(Fortsetzung des blogposts “Das Problem mit unseren Identitäten (Teil 1)”:
Es gibt aber noch eine weitere sehr unangenehme Situation, die wir im Zusammenhang mit unseren Identitäten erleben können. In diese geraten wir immer dann, wenn verschiedenen Identitäten oder Identitäten-Gruppen innerhalb unserer Persönlichkeit in einen Konflikt miteinander geraten.
Derartige innere Konflikte entstehen insbesondere dann, wenn wir bei der Verfolgung eines unserer Ziele scheitern bzw. eine Niederlage erleben. Unser Scheitern bedeutet dabei automatisch, dass auch das Ziel einer unserer Identitäten vereitelt wird.
Nehmen wir zur Veranschaulichung einmal an, ich befände mich in einer Beziehung mit einer Frau. Nehmen wir des Weiteren an, ich hatte vorher noch nie Probleme in emotionalen Beziehungen und alles wäre ok. Sagen wir nun, ich besäße die Identität einer offenen Person mit dem Ziel, Liebe zu erhalten. Immer wenn ich mich mit meiner Freundin treffe, nehme ich also die Identität der offenen Person ein und auch, wenn ich zuhause bin und an sie denke. Wenn ich dagegen nicht gerade an sie denke oder bei ihr bin, wechsle ich in andere Identitäten, die ich zu dann je nach Situation gerade am besten brauchen kann. Soweit wäre also alles in Ordnung.
Bis sie mir eines Tages gesteht, dass sie einen anderen Mann kennen gelernt hat und mich verlassen will. Dies wäre nun eine klare Niederlagensituation und das Ziel meiner Identität der offenen Person, nämlich Liebe zu erhalten, würde vereitelt.
Wenn uns so etwas zum ersten Mal passiert, sind wir geschockt und verwirrt. Wir wissen nicht, was wir nun denken, fühlen und wie wir uns verhalten sollen. Schließlich denken, fühlen und verhalten wir uns immer auf der Basis unserer bereits existierenden Muster. Während unseres gesamten Lebens lernen wir solche Muster. Wenn immer wir uns in einer neuen Situation befinden, halten wir innerlich Ausschau nach einem solchen Muster und wenn wir eines finden, verhalten wir uns entsprechend. Wenn wir jedoch kein Muster dafür parat haben, sind wir verwirrt.
Dies ist es, was unseren Urahnen, den Jägern und Sammlern ermöglicht hat, zu überleben. Ein solches Überlebensmuster war vielleicht: ich gehe durch den Wald, höre ein bestimmtes Geräusch zu meiner Rechten, identifiziere es als Säbelzahntiger und flüchte sofort in die Gegenrichtung. Derartige Muster zu entwickeln und zu erlernen, ermöglichte es unserer Spezies, zu überleben. Aus diesem Grund lieben wir auch Geschichten. Schließlich wurden all die erworbenen Verhaltensmuster mithilfe von Geschichten von Generation zu Generation übermittelt. Und auch heute noch liegt es uns in den Genen, dass unsere Muster Sicherheit und Überleben bedeuten.
Aber zurück zu unserem Beispiel: jetzt hat mir meine Freundin also gesagt, dass sie sich wegen eines anderen Mannes von mir trennen will. Das Ziel meiner offenen Persönlichkeit (nämlich Liebe zu erhalten) ist vereitelt und ich bin verwirrt. Ich suche in mir nach einem Muster, finde aber keines.
Wenn wir aber kein Muster in uns finden, haben wir das Gefühl, dass unser Überleben gefährdet ist. Also entwickeln wir ein Muster. Im Moment der Niederlage erschaffen wir deshalb etwas, das wir als Niederlagenentscheidung bezeichnen können. Diese Entscheidung könnte lauten „Liebe kann sehr weh tun“. Dann habe ich ein neues Muster. Erstens erkläre ich mir dadurch, was passiert ist. Und weil ich jetzt dieses Muster habe, fühle ich mich etwas sicherer und besser. Abgesehen davon gibt es aber auch einen weiteren Grund, weshalb wir eine Niederlagenentscheidung treffen. Wir treffen sie, um zu verhindern, dass uns das gleiche negative Ergebnis in der Zukunft noch einmal passiert. Jetzt weiß ich nämlich, dass Liebe wehtun kann und so kann ich verhindern, dass ich in der Zukunft nochmal den gleichen Schmerz erleide. Diese Entscheidung wird nun zu meiner Wahrheit bezüglich eines bestimmten Lebensbereichs. „Liebe kann wehtun!“ Das ist eine Überzeugung. Und wir wollen stets in Übereinstimmung mit unserer Wahrheit und unseren Überzeugungen leben.
Sobald ich die Niederlagenentscheidung getroffen habe, wechsle ich in eine andere Identität, mit der ich diese Entscheidung bestärke. Meine neue Identität könnte nun sein: eine verschlossene Person, die das Ziel verfolgt, in Beziehungen Verletzungen zu verhindern.
In diesem Fall hätte ich nun zwei Identitäten: die verschlossene Person und die ursprünglich bereits vorhandene offene Person. Das Ziel der verschlossenen Person besteht darin, in Beziehungen seelischen Schmerz zu vermeiden und das Ziel der offenen Person besteht darin, Liebe zu erleben. Auf diese Weise entsteht ein Konflikt zwischen den beiden Identitäten, die ab sofort miteinander kämpfen. Wie in einem Tennis Match, in dem zwei Spieler gegeneinander antreten.
Und wie wirkt sich das auf mein zukünftiges Verhalten aus?
Nun, da beide Identitäten zu mir gehören und meine eigenen Ziele vertreten, ich jedoch fühle, dass ich sie nicht beide gleichzeitig haben kann, wechsle ich einfach immer wieder die Seiten. Ich gehe einmal auf die eine Seite und dann wieder auf die andere. In der einen Phase meines Lebens schlage ich mich auf die Seite der verschlossenen Person und ich entscheide mich, allein zu bleiben. Dann will ich meinen Frieden und keinen Beziehungsstress, kein Drama und nichts von dem ganzen Theater, das mit einer Beziehung einhergeht. Allerdings gibt es ja noch diesen anderen Teil von mir, der mit dieser Situation gar nicht glücklich ist, weil sein Ziel darin besteht, Liebe zu erleben. Und wenn ich keine Liebe bekomme, erzeugt dieser Teil von mir, nämlich die offene Person, eine negative Reaktion. Um aber die Seite der verschlossenen Identität zu bestärken, verdränge ich diese negative Reaktion. Und je mehr ich sie verdränge, umso stärker wird sie. Und dann wird sie stärker und stärker, bis irgendetwas passiert, das mich dazu bringt, die Seiten zu wechseln. Dann befinde ich mich wieder auf der anderen Seite. Dann möchte ich wieder eine Beziehung und Liebe. Der andere Teil sagt zwar, „erinnere dich daran, was beim letzten Mal passiert ist“, aber jetzt verdränge ich ihn. Ich begebe mich in eine neue Beziehung. Und am Anfang ist auch alles ganz toll. Dummerweise wird der Teil, der Liebe will, nun aber passiv, da er sein Ziel ja erreicht hat. Während der andere Teil aktiv wird, da sein Ziel gefährdet ist. Sein Ziel ist es ja, mich davor zu schützen, in Beziehungen verletzt zu werden. Er ist also eine Art Alarmanlage und er wurde dafür geschaffen, mich zu alarmieren und zu schützen. Also werde ich jetzt eifersüchtig und kontrollierend, bis ich die Beziehung schließlich zerstöre und beende. Mein Ziel bewegt sich also wieder auf die andere Seite.
Wenn wir einen inneren Konflikt haben, wechseln wir also zwischen den beiden Seiten der Medaille hin und her. Und jedes Mal, wenn wir die Seiten wechseln, fügen wir dem Konflikt noch mehr Identitäten, mehr Entscheidungen und mehr Ziele hinzu. Durch diesen Prozess enden wir schließlich mit einem vielschichtigen Konflikt. Dann haben wir eine Gruppe von Identitäten auf der einen Seite und eine Gruppe von Identitäten auf der anderen Seite. Jetzt ist das ganze also zu einem Fußballspiel geworden. Zwei Gruppen von Identitäten gegen einander.
Jetzt gibt es aber noch ein weiteres Problem. Denn wenn wir einen inneren Konflikt haben, wird sich immer eine Seite beschweren, egal welche Seite wir auch wählen. Das heißt also, dass wir ständig mit negativen inneren Reaktionen zu kämpfen haben. Wenn sich meine Eltern streiten und ich stelle mich auf die Seite meines Vaters, dann wird meine Mutter nicht glücklich darüber sein. Wechsle ich jedoch die Seite und stelle mich hinter meine Mutter, dann wird mein Vater nicht begeistert sein. Egal auf wessen Seite ich mich auch stelle, die Gegenseite wird darüber nicht erfreut sein.
Genauso verhält es sich auch bei unseren inneren Konflikten.
Die Lösung unserer inneren Konflikte besteht darin, dass wir uns alle Identitäten auf beiden Seiten des Konflikts bewusst machen. Durch die Integration aller Identitäten auf beiden Seiten des Konflikts hören diese damit auf, uns ihre Ziele aufzuzwingen. Dadurch hört unser zwanghaftes Verhalten auf und wir erlangen die Freiheit zurück, bewusst wählen zu können, wie wir uns verhalten wollen. Wenn es uns gelingt, unsere Identitäten zu integrieren und uns ihre Ziele bewusst zu machen, lösen wir automatisch unsere damit verbundenen Probleme.
An diesem Punkt kommen die Methoden der Psychointegration ins Spiel, da sie uns die großartige Möglichkeit eröffnen, zwischen psychoemotionalen Inhalten und Identitäten zu unterscheiden.
Wichtig ist dabei zu wissen, dass wir die Fähigkeit, unsere Identitäten bei Bedarf einzunehmen, nicht verlieren, wenn wir sie integrieren. Identitäten sind schließlich auch nicht das Problem. Probleme haben wir nur, wenn wir in einer Identität feststecken. Wenn ich also z.B. meine wütende Identität integriere, dann heißt das nicht, dass ich nicht mehr wütend und aggressiv sein kann. Ich kann diese Identität jederzeit willentlich annehmen, wenn ich der Meinung bin, dass dies die optimale Reaktion in einer bestimmten Situation sein könnte. Wir verlieren also nichts durch die Integration sondern gewinnen nur die Freiheit, uns bewusst zu entscheiden.